Er ist 14 Jahre alt, als er eines Tages nach Hause kommt und seine Mutter tot auf dem Fußboden liegend vorfindet. Er ist 18 Jahre alt, als sein Vater stirbt. Er ist traurig, wütend, verzweifelt. Er weint. „Bist du ein Mann – oder bist du kein Mann?“ fragen, nein, sagen die älteren Geschwister, alle schon in eigenen Familien gesichert. Sie wollen keine Tränen sehen. Warum nicht? Wahrscheinlich, weil es sie verunsichert, den kleinen Bruder so zu sehen. „Mut machen“, wird so etwas oft genannt. „Kopf hoch“, wird gesagt. Aber es macht keinen Mut. Es zieht Beine weg. Macht instabil.
Klar ist er ein Mann! Natürlich ist er es! Wer möchte es nicht mit 18 Jahren sein? „Mann sein“ in Krisenzeiten bedeutet in unserer Gesellschaft oft: Du darfst wütend sein. Beschützend sein. Man nennt es „stark sein“, aber mit wahrer Stärke hat das nichts zu tun. Es bedeutet: Du darfst nicht weinen, erst recht nicht öffentlich. Denn unsere Gesellschaft, pauschal gesprochen, wünscht sich keine traurigen Menschen. Zumindest nicht länger als ein paar Wochen.
Er schafft es, die Traurigkeit zu unterdrücken. Es ist jedoch hart, deswegen braucht er Unterstützung. Die bekommt er von seinen Geschwistern nicht, vor den Freunden möchte er sich keine Blöße geben, Eltern hat er nicht mehr. Was hilft ist Alkohol – und ab und zu was rauchen. So bekommt er sich „wieder in den Griff“. Seine gelernte Taktik wendet er nun in Krisensituationen immer wieder an, insbesondere dann, wenn die Trauer in ihm aus dem Bauch langsam am Brustbein in den Hals aufsteigt, um dann als Tränenausbruch rauszukom… NEIN! KEINE Tränen! Er schluckt und raucht und trinkt und wirft sich die eine und mal die andere Tablette rein. So funktioniert’s wieder. So funktioniert er wieder.
Er lernt eine nette Frau kennen, sie verlieben sich. Sie weiß, dass seine Eltern tot sind – ein Grund, warum sie nicht zur Hochzeit kommen können. Über sie redet er nicht, er bittet seine Frau auch, ihn nicht danach zu fragen. Er möchte nicht darüber reden. Denn darüber reden würde bedeuten, die Trauer „raus zu lassen“ und es ist so schon an manchen Tagen schwer, sie zu unterdrücken, zu verdrängen. Verdammt, er steht doch schon seit über 10 Jahren unter Druck…
Sie lässt ihn, mag ihn nicht bedrängen. Was beiden jedoch nicht bewusst ist: spätestens in diesem Moment des darüber Schweigens entsteht eine Beziehungsstörung zwischen ihnen. Es gibt jetzt ein Tabuthema in ihrer Beziehung: der Tod seiner Eltern. Dieses Tabu bedeutet, dass man nicht über den Tod der Eltern reden darf – am „besten“, man redet gar nicht über die Eltern. Aber: ist das „thema“ damit wirklich abgeschlossen? Oder steht es nicht wie der berüchtigte Elefant, den keiner sehen will, im Raum?
Es geht ihm in der Beziehung gut, er trinkt nur ab und zu über den Durst hinaus, er kifft nur hin und wieder. Sie erwarten ein Baby, es wird ein Junge. Er soll den Zweitnamen von ihm, dem stolzen Papa, erhalten. Drei Tage vor dem errechneten Geburtstermin stirbt der kleine Kerl im Bauch der Mutter. Eine Welt bricht für das junge Ehepaar zusammen. Sie, die Mutter, weint und weint und weint. Sie möchte von ihm gehalten werden, getröstet werden und ihm Trost geben. Er wehrt sie ab.
Was beide nicht wissen: der Verlust des Kindes und die Trauer der Ehefrau rühren ihn an, mischen seine alte Trauer in ihm auf. Der Tod seiner Mama, der Tod seines Papas, die Anstrengung, die Trauer zu unterdrücken. Unter Druck zu stehen. DAS IST ZUVIEL! DAS HÄLT MAN(N) DOCH NICHT AUS! Er stößt sie ab, seine traurige Frau, er beschimpft sie. Verbal aggressiv wird er, er benennt es selbst so. Was beide auch nicht wissen: Trauer ist ansteckend, so wie alle angeborenen Gefühle ansteckend sind. Das hat das Leben ganz natürlich eingerichtet, damit wir Mitgefühl erhalten und mitfühlend sein können. Wer seine Trauer verdrängt und nicht sichtbar macht, erhält allerdings kein Mitgefühl. Auch nicht dann, wenn es so notwendig wäre. Also: Not wenden könnte. In unserer Gesellschaft (pauschal ausgedrückt) erhält man allerdings für Verdrängung und Anerkennung. Man nennt es „Stärke“ und verwechselt es mit „Härte“. Wer Trauer und Schmerz und Angst unterdrückt, steht unter Druck. Mit Druck können die meisten Menschen besser leben als mit Trauer. Das ist geübt. Jahrelang geübt. Ungefähr mit fünf Jahren fangen kleine Jungs damit an. Mädchen nur manchmal. Das ist anerzogen und antrainiert. Allerdings nicht angeboren.
Und damit stelle ich meine Behauptung auf, dass wir in manchen Bereichen eine gestörte, eine beziehungsgestörte, Gesellschaft sind. (Natürlich ist auch dies pauschalisiert, oder?)
Gegen zu großen Druck gibt es ganz legal Tabletten und auch ein bisschen Alkohol hilft da beim Runterkommen. Es gibt auch Krankenscheine und Kliniken gegen Burnout-Syndrome. „Ach, das ist doch heute normal, in unserer Leistungsgesellschaft. Da stehen wir doch alle unter Druck..“ Nicht wahr?
Obwohl: Auch ein Burnout ist heute schon nicht mehr geachtet. Da lächelt man(n) drüber. Manche nennen es eine „Modeerscheinung, die jeder Zweite“ hat und nehmen nicht wahr, dass das ein Resultat unserer Verhaltensweisen ist.
Oh, es ist oft so verdammt schwer, ein echter Mann und auch eine taffe Frau zu sein. Ich hörte, dass das Koksen wieder moderner würde. Ja, Koks zu nehmen, kann eine Option sein, sich trotz Druck, trotz Trauer, Stress, Angst, gut zu fühlen. Es ist eine Option – ich behaupte jedoch, keine gute. Denn: wenn ich mein Elend immer weiter betäube, was benötige ich anschließend für den Druck, wenn die Droge nachlässt?
Ein Teil der Lösung könnte sein, zu lernen, dass bestimmte Gefühle raus dürfen, ja sogar raus müssen. z.B. Trauer und Tränen, die fast jeder in sich trägt – mal mehr, mal weniger. Die Fähigkeit zu weinen ist uns angeboren – genauso wie das Talent, lachen zu können. Wenn wir das eine so wie das andere einsetzen würden – wie genial wäre das denn?!? Das Problem ist jedoch, dass es gegen längere Trauer (im Gegensatz zu Freude) ganz legal Tabletten verordnet werden können. Wer macht eigentlich die Angabe, wie lang Trauer dauern darf? Sollte die Länge der Trauer über ein geliebtes verstorbenes Kind kürzer sein als die Länge des Glücks über ein erwünschtes geborenes Kind? Ich frage ja nur …
Seine Frau will in den Arm genommen werden. Er kann das jedoch nicht, nicht so, wie sie es braucht. Denn sie würde ihn anstecken mit ihrer Trauer und alles anstecken, aufwirbeln, alles was da so verborgen in ihm steckt. Rausholen was doch drin bleiben soll. Verdammt, das geht doch nicht! Es ist jahrelange schwere Arbeit gewesen, dass alles immer wieder runterzudrücken. (Das denkt er natürlich nicht bewusst, aber das spürt er in sich, diese Unruhe). Da will was in ihm hochsteigen, etwas, was er nicht aushalten kann … oder will (was er nicht weiß: er kann es aushalten, er traut sich nur nicht, weil er so ungeübt darin ist. Und, wer will denn schon als Stümper trauern?
Und so spürt er nur noch einen Gedanken: „Ich muss hier weg! Ich halte das nicht aus! HÖR AUF ZU HEULEN, FRAU!“ „Liebst du mich denn gar nicht?“ fragt sie. Oh doch, er liebt sie! Und wie er sie liebt. Mahr als alles auf der Welt – oder zumindest genauso, wie er das kommende Kind schon geliebt hat. Und doch kann er in diesem Moment nicht bei ihr bleiben: „Hör auf, lass mich in Ruh, ich kann das ständige Geheule nicht mehr haben! “Und er geht, nimmt die Jacke und trinkt. Und kifft. Und besorgt sich Tabletten. Und besorgt sich Geld, erst seins von der Bank, dann ihr Geld. Dann muss er es selbst besorgen. Beschaffungskriminalität.
Er wird erwischt. Er kommt in den Knast für 3 Jahre. Er hatte ganz schön viel Zeugs dabei. Er kommt zur Ruhe und im Gespräch mit dem Psychologen erzählt er von seiner Trauer. Ich erhalte einen Anruf: „Können sie kommen? Wir haben wieder jemanden, der Ihre Hilfe benötigt.“ Der Psychologe hat vieles im Studium gelernt und sein Beruf ist so notwendig in so vielen Krankheits- und Störungssituationen. Trauer ist jedoch nicht sein Metier. Nicht nur nicht von ihm, sondern von fast kaum Psycholog*innen. Was gut ist: Viele von sehen die verstärkt die Notwendigkeit und kommen mittlerweile in meine Weiterbildungskurse. Sie haben Interesse, dazuzulernen.
Und dann sitzen wir im Besuchszimmer. Zwischen uns der Plexiglasspuckschutz, hinter ihm das vergitterte Fenster. Hinter mir die unabgeschlossene Glastür. Ich stelle mich vor und frage, er antwortet. Wir reden, ich erkläre, zeige Schaubilder, die ich entwickelt habe. Das gebrochene Herz, die Sprengdose, den Tischtennisball unter Wasser – nein, ich zeige nicht alles, aber das, was es grade zum verständlich machen braucht. Es braucht nicht nur Worte, auch Bilder – die Eindruck machen. „So habe ich das noch nie gesehen“, sagt er. „Ah, ich verstehe“, sagt er auch. „Wenn ich das gewusst hätte“, und er dreht sich um zum vergitterten Fenster, zeigt mit dem Daumen drauf und sagt: „Ich glaube, vielen hier geht es ähnlich, oder? Aber die meisten haben noch große Schnauze dabei.
“Er wiegt den Kopf hin und her und nickt dann. „Ich habe Angst, meine Frau zu verlieren“, sagt er. Das glaube ich ihm sofort. Grundsätzlich schon durch die Knastsituation. Aber auch mit dem Wissen, dass der, der Trauer unterdrückt und daraufhin den Verlust nicht bewältigen kann, Verlassensängste entwickelt. „Und gleichzeitig tust du alles dafür“, antworte ich und erkläre ihm, wie dieser Teufelskreis zustande kommt: Beide sind traurig, er versucht, zu unterdrücken, sie will es ausleben. Das wühlt ihn auf, erschwert es ihm, dem Druck standzuhalten. Um sich unter Kontrolle zu bringen, muss er alles unter Kontrolle bringen: er schreit sie an, beleidigt sie, empfindet sie als schuldig, ihn nun wütend gemacht zu haben (die Traurigkeit wird nun durch seine Wut verdeckt). Um nicht körperlich aggressiv zu werden, verlässt er das Haus, irrt umher, muss sich runter bekommen, dafür braucht er Drogen. Andere vielleicht Gewalt. Etwas kaputt machen oder jemanden zusammenschlagen – auch das kann Druckabbau sein. Auch hier natürlich wieder: kein gesunder Druckabbau. Weder für den Täter, erst recht nicht für das Opfer.
Dann kommt er wieder nach Hause: „Immer gehst du weg, wenn ich dich brauche. Liebst du mich nicht?“ „Doch, ich liebe dich. Es tut mir leid. Aber du kannst auch nicht immer weinen.“ „Aber ich muss weinen. Bist du denn gar nicht traurig?“ „Doch, ich bin auch traurig.“ „Dann nimm mich doch einmal in den Arm.“ „Ich kann nicht…“ Denn, wenn er es täte und sein Herz ginge auf, dann würde er folgerichtig im Innersten berührt, dann würde doch neben der Liebe auch die Trauer rauskommen. Und er müsste weinen. Rotz und Wasser. Und das darf er nicht. Er will doch ein Mann sein. IHR Mann sein.
Ja, ich arbeite mit Kathrin Wittke, einer meiner Kolleginnen, auch im Knast. Wir erleben dort Männer, die vielleicht nicht dort wären, hätten sie die Chance auf Jugendtrauerarbeit erlebt. Wir erleben junge Erwachsene bei Lavia, die schon mal das eine oder andere Mal vielleicht mit einem Fuß im Gefängnis standen – und dann doch den Absprung bekommen haben. Aus unserer Arbeit ist mir und uns niemand bekannt, der/die „abgestürzt“ ist. Unser ganzes Lavia-Team war das Jahr 2020 über aktiv, auch in Coronazeiten. Der Tod und die Trauer machten da keine Pause.
Über die Jahreswende begleiten wir derzeit vier Familien in Akutsituationen, drei persönlich vor Ort und eine Familie per Zoom. Ende November habe ich begonnen, um Dauerspenden zu bitten, damit wir dauerhaft Akuthilfen für Familien und Trauergruppen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene anbieten können. Bleibt oder werdet gerne Unterstützer*in der gemeinnützigen LAVIA gGmbh.
DANKE von Herzen im Namen vieler Menschen, denen Ihr damit helft!
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