Er ist 15 Jahre alt und sitzt Ende letzten Jahres mit seinem Vater bei mir am Küchentisch im LAVIAhaus.
Die Mutter war nur kurz schwer krank, ihr Tod fühlt sich für beide so unwirklich an. Und jetzt sitzen die beiden Männer da, ruhige, ernsthafte Typen, die die Ehefrau und Mutter so liebevoll beschreiben.
Wir reden, ich erkläre das eine und andere von Trauerreaktionen und als ich zum Schluss frage: „Habt ihr noch eine Frage?“ zögert der 15 jährige kurz und sagt dann: „Ich habe Angst… also, ich habe Angst, dass ich mich durch den Tod meiner Mutter verändere…“
Ich glaube zu verstehen, was er befürchtet und muss lächeln als ich sage: „Weißt du, man müsste Angst bekommen, wenn du dich durch den Tod deiner Mutter NICHT veränderst.
Weißt du, da stirbt eine Mama, und dazu noch so eine liebe, so eine herzliche, wie ihr sie beschrieben habt. Und das macht ja was mit einem.
Wie schlimm wäre es, ihr würdet weitermachen wie vorher und würdet sagen: „Jetzt ist sie leider weg, aber das macht uns gar nix aus.“ Nein, wenn jemand Besonderes stirbt, dann fühlt sich das manchmal an, als würde das Herz brechen.
Es fühlt sich dann anfangs meist wund und schmerzhaft an, und wenn es heilt, dann wird man eine Narbe zurückbehalten.
Der Tod deiner Mutter, bzw. die Narbe davon, macht dich vielleicht empfindsamer für andere Menschen, vielleicht dankbar für vieles, was bisher selbstverständlich war. Irgendeine „Macke“ wird es bestimmt auch geben wenn eine Mutter stirbt, aber Macken haben wir doch alle. Sie machen uns ja auch als Typen aus – und nicht unbedingt als schlechte und nicht unbedingt schwächer als andere.“
Vater und Sohn nicken. „Ja, so ist es wohl“, sagt der Ehemann. Nun habe ich die beiden wiedergesehen, diesmal sitze ich an ihrem Küchentisch. Ich habe Motivtaschentücher mitgebracht, wir verteilen sie gemeinsam auf dem Tisch und ich frage den Fünfzehnjährigen, welches Tuch er benötigt hätte, als die Mama starb und welches Motiv heute passt? Ober ob ein und dasselbe Taschentuch ist?
Er nimmt einige Taschentücher in die Hand, überlegt, legt sie weg, sucht weiter und findet zwei für ihn passende.
Und auch sein Vater macht mit, er blieb nach dem ersten gemeinsamen Austausch am Tisch sitzen und es ist so wertvoll, weil es beiden Männern sichtbar gut tut und sie sich voreinander nicht genieren.
Der 15 jährige wählt für „damals“ ein Tuch für die Traurigkeit und für jetzt ein Taschentuch mit einem Kuchen darauf. Und dann erzählen beide, dass ja eigentlich immer die Mutter gebacken und gekocht hat und er nun auf einmal Gefallen daran findet.
Und auch der Vater erzählt, dass er eine liebenswerte Eigenschaft seiner Frau übernommen habe und es ist auf einmal so eine Wärme in der Wohnküche spürbar, die nicht von der Heizung herrührt.
Sie scheint vom Foto der Mutter, vor dem eine Kerze brennt, und von unserem Küchentischgespräch herzukommen.
„Wisst Ihr noch, wie wir Anfang des Jahres im LAVIAhaus über deine Sorge gesprochen haben, du könntest dich verändern?“
Der 15 jährige nickt.
Ernst, dann lächelt er.
„Ihr habt beide nicht das gleiche Taschentuch gewählt, weil sich ja einiges verändert hat. Weil ihr Euch dadurch verändert habt, jetzt schon. Was würde Eure Mutter, Ehefrau dazu sagen?“
Beide lächeln breit, obwohl – oder weil? – sie zwischendurch auch jeweils ein Taschentuch für ihre Tränen benötigt hatten.
Und dann stellen sie auf einmal fest, dass etwas von der Mutter und Ehefrau auf sie übergegangen ist, etwas, wofür sie dankbar sind. Und jeder der beiden sagt mit einem Blick auf das Foto und jeweils den anderen: „Es würde sie freuen.“
Ach, das glaube ich auch und bestimmt wäre sie stolz auf ihre beiden Männer, die sich trauen, Trauerbegleitung auszuprobieren um zu merken, dass es erleichtern kann.
Und der Sohn hat auch Glück mit dem Vater, der die Trauer nicht nur mit sich alleine ausmacht – und umgekehrt ebenso.
Mechthild Schroeter-Rupieper
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